Neue Möglichkeiten für alte Gewohnheiten im Handel
In Kundenterminen zum Technologieeinsatz in Filialen ist eines der eingängigsten Beispiele immer das Tablet-PC. Mittlerweile wissen fast alle Retailer ihre eigene Geschichte über die Einführung neuer Tablets in ihren Filialen zu berichten, und die Geschichten hören sich oft ähnlich an: Die Dinger fliegen in der Ecke rum.
Obwohl sich die IT viel Mühe gegeben hat, Mitarbeiter-Apps zu entwickeln und diese massenweise aufzuspielen, werden gerade in Filialen die neuen Lösungen oft nicht akzeptiert. Zu umständlich, immer kaputt oder die Theoretiker wissen nicht wie die Praxis hier bei uns läuft, sind gängige Antworten bei Mitarbeiterbefragungen.
Warum ist das gerade im Handel so deutlich zu beobachten? Die Tablet-Computer sind ja nicht das einzige Beispiel. Eine Kollegin erzählte mir neulich, dass der Filialleiter eines Supermarktes seine Mitarbeiter sogar anweist, aus dem Onlineshop desselben Unternehmens entstandene Retouren möglichst an andere Filialen abzuwälzen – alles andere als kollegial.
Handel ist Wandel?
Dass gerade neue Technologie im Handel oft nicht akzeptiert wird, ist vordergründig unlogisch. Schließlich ist Handel doch Wandel. Und seit Jahren gehen Technologieberater in den Zentralen von Europas Handelskonzerne ein und aus, berichten von Multichannel, Omnichannel und neuerdings auch von Ambient User Experience.
Es sind teilweise gute und sinnvolle Ideen, umgesetzt mit moderner Technologie, die Entscheidungsträger im Handel begeistern. Aber die Filiale hat ihre eigene Welt, ihre eigenen Regeln und Systeme. In einem der vorherigen Artikel zu dieser Serie habe ich bereits über die Bedeutung „meines Spints, meiner Kassenlade und meines Kartonmessers“ in der Filiale gesprochen. Dort wo aus der Geschichte heraus eher Anweisungen befolgt werden, ist es den individuellen Mitarbeitenden wichtig, zur Erfüllung ihrer Aufgaben auch gut ausgerüstet zu sein. Traditionell sind Entlohnungssysteme bei uns im Handel eher auf Personen und weniger auf Gruppen bezogen. Umso wichtiger ist es zu verstehen, wie die Arbeitswirklichkeit dieser Menschen aussieht.
Veränderung ohne den Blick für das Feste – irreführend und verschenkte Potentiale
Durch den Einsatz von neuen Technologie sollen oft Arbeitsweisen verändert werden. Wer aber verstehen will, was Veränderung ist, dem empfiehlt es sich, auch Fest-Setzung mit in den Blick zu nehmen. Erst wenn der Sinn und Zweck von Gesetztem in der Arbeitswirklichkeit verstanden ist, lässt sich Veränderung planen. Aus dieser Perspektive heraus nehmen wir in unserer Beratung die Gewohnheiten von Menschen in den Blick und schauen, wie diese produktiv für neue Anforderungen genutzt werden können.
Denn psychologisch gesehen sind Gewohnheiten bestimmte Setzungen, die als wichtiger erachtet werden als andere. In ihnen entfalten sich Tendenzen zur Bestätigung und zur Behauptung. Sie bestimmen das subjektive Erleben und bilden Züge von Verantwortung und Abweisung aus. Es sind grundlegende Dinge, die auch unser „Ich-Erleben“ ausmachen: Das ist mir wichtig, so möchte ich mich verhalten und sein. An diese Setzungen sind Erwartungen geknüpft und es ergeben sich Gefühle, Wahrnehmung und Verhaltensweisen. Sie einfach zu übergehen bedeutet Entfremdung und kann zu Phänomenen wie „Dienst nach Vorschrift“ führen. Wer also neue Technologie in Filialen einführen möchte, sollte planvoll, also mit einer Strategie, mit Verarbeitungstendenzen umgehen und sie nicht sich selbst überlassen. Nur dann lassen sich gewünschte Muster ausbilden.
Ein einfaches aber konkretes Beispiel dafür ist, wenn sich engagierte Mitarbeiter für Marktprozesse eigene Lösungen beispielsweise in Office schaffen. Mehrmals schon habe ich Filialmitarbeiter gesehen, die nach ihrer Arbeitszeit komplexe Sheets zur Personaleinsatzplanung oder zur Produktinformation in Excel bauen. Hier schlummern manchmal wahre Talente. Schade ist nur, dass solches Wissen manchmal die konkrete Filiale nie verlässt. Andere Filialen des haben vielleicht ähnliche Probleme und müssen die Lösungen immer wieder neu erfinden.
Bei mehreren Einführungen von SAP Retail habe ich dann erlebt, dass solche hauseigenen Excel-Lösungen von den Consultants müde belächelt werden. Unter dem Vorwand der Standardisierung und Effizienz wird dann dem Filialpersonal die Technik und die Logik des ERP-Systems quasi „übergestülpt“, anstatt zu schauen, welches Wissen in den Filialen bereits operationalisiert ist. Es ist hier nicht selten eine Arroganz der IT, die glaubt es besser zu wissen, als die Mitarbeiter im Markt.
Meiner Meinung nach ist der falsche Umgang mit Setzungen und Historisierung, also mit dem, was bereits vorhanden ist und in den Filialen gelebt wird, ein signifikanter Prädiktor für das Scheitern von Einführungen großer ERP-Systeme und dem damit verbundenen Change Management. Vielmehr noch werden Potentiale verschenkt. Die Anwendung solch alter psychologischen Erkenntnissen findet sich aber in modernen Ansätzen wie dem „Design Thinking“ wieder.
Die Lösung findet sich im Spannungsverhältnis.
Nicht im Entweder und Oder
Sich die Gewohnheiten der Mitarbeitenden vor Ort genau anzusehen und sie zu nutzen soll kein Plädoyer dafür sein, ihre Wünsche komplett zu erfüllen. Würde jeder Mitarbeitende seine Gewohnheiten zur Gänze umgesetzt bekommen, herrschte vermutlich wenig Produktivität und ein Ausmaß an Heterogenität, wie sie sich kein Unternehmen wünschen kann.
Aber es gibt zahlreiche Tools, dem gerecht zu werden und sie produktiv zu nutzen. An anderer Stelle beispielsweise sprechen dieselben IT-Berater ja vom oben genannten Design Thinking und der Macht der „Crowd“. Warum lässt sich die „Community“ also nicht auch für die Justierung softwaregestützter Filialprozesse nutzen?
Konsens, dass dies nicht ohne Moderation geht. Daher setzen wir in unserer Beratung zum Technologieeinsatz in Filialen unsere Erkenntnisse immer methodisch ins Verhältnis. Unser Konzept sieht ein optimales Kundenerlebnis im Multichannel als Spannungsverhältnis zwischen
- Beratungsanforderungen der Kunden
- Umsetzungsvorgaben der Zentrale an Filialen und
- Fertigkeiten und Fähigkeiten der Mitarbeiter am POS
Das Ergebnis unserer Verfahrensweise sind nutzenorientierte Lösungen aus Mitarbeitersicht (Wie lassen sich Gewohnheiten im Arbeitsumfeld produktiv nutzen), Kundensicht (Welche Erwartungen stellen Kunden an Beratung) und Unternehmensinteressen (Einheitliche, effiziente Filialprozesse, Aufgaben und Standardisierungen).
Erst durch Abwägung aller Faktoren kann ein Sollzustand vor dem Hintergrund einer Kosten-Nutzen-Rechnung definiert werden.
Ein Mehrwert unserer Beratung ist die Objektivierung der beschriebenen ökonomischen und psychologischen Faktoren sowie deren strategische Anwendung. Das Ergebnis ist ein optimales Kundenerlebnis im Multichannel zu vertretbaren Kosten für das Unternehmen und mit Mitarbeitern, die Spaß an der Sache haben und beteiligt sind.
im Handel